Wie ist die Situation der lutherischen Kirche in der Ukraine momentan?
Die ukrainische-lutherische Kirche arbeitet aktuell daran, eine neue ukrainische Ordnung für die Liturgie zu entwickeln. Die lutherische Kirche in der Ukraine ist nicht so groß. Sie umfasst 18 Gemeinden. Früher bestanden sie größtenteils aus Deutschen, die in der Ukraine lebten. Heute ist die Situation ein bisschen anders. Teilweise besteht die lutherische Kirche immer noch aus Deutschen, aber auch aus Ukrainer:innen und Menschen mit anderen Nationalitäten. Wir brauchen eine ukrainische Liturgie. Früher benutzte die lutherische Kirche in der Ukraine Russisch als Liturgiesprache. Aber jetzt, ganz verständlich, ist Russisch unerwünscht. Wir arbeiten an einem liturgischen Text auf Ukrainisch. Die lutherische Kirche in der Ukraine ist sehr aktiv in sozialen Belangen. Mehr denn je versuchen wir in der Kriegssituation, anderen Menschen zu helfen.
Welche Rolle spielt der Angriffskrieg Russlands in Ihrem Alltag?
Der Krieg ist Nummer eins in unserem Alltag. Wir Ukrainer haben eine App, die uns über Luftalarm informiert. Jeder von uns hat diese App. Sie zerstört sehr oft unsere Pläne. Die Landkarte darin zeigt, welche Regionen unter Luftangriff sind. Diese App diktiert unsere Ordnung und sehr oft zerstört sie sie. Jeden Tag beginnen wir damit, verschiedene Telegram-Kanäle durchzusehen, um zu wissen, was diese Nacht passiert ist. Dort erfahren wir von neuen Zerstörungen, Angriffen und Opfern. Der Krieg beeinflusst unser ganzes Leben. Das ist sehr kurz gesagt, welchen Einfluss der Krieg auf unser tägliches Leben hat.
Wie wirkt sich der Krieg auf die Religion im Land aus?
Alle christlichen Gemeinden sind jetzt sehr stark verbunden. Alle religiösen Organisationen versuchen zu helfen: der Armee, den Soldaten, den Menschen, die von Zuhause geflohen sind. Wir arbeiten zusammen.
Welche konkreten Auswirkungen hat der Krieg auf das religiöse Leben?
Gottesdienste finden jeden Sonntag statt. Manchmal, wenn die Sirene läutet, müssen die Gläubigen in die Luftschutzräume gehen. Manchmal bleiben sie auch in der Kirche. Ich erinnere mich an einen Gottesdienst, der in unserer katholischen Universität war. Während des Gottesdienstes gab es einen Luftalarm, aber wir haben entschieden, in der Kirche zu bleiben. Gott hat uns beschützt. Aber es ist kein angenehmes Gefühl, wenn du dieses Signal hörst. Das bedeutet, dass der Tod nah ist. Vielleicht nicht für dich, aber für einen anderen Menschen.
Schließen sich seit Kriegsbeginn mehr Menschen der Kirche an?
Insgesamt nicht. Die Leute, die vor dem Krieg an Gott geglaubt haben, glauben weiter. Aber neu zum Glauben gefunden haben wenige. Normalerweise kommen mehr Menschen in die Kirche, wenn sie humanitäre Hilfe brauchen. Aber dieser Weg, Leute in de Kirche zu ziehen, ist nicht gut. Im Durchschnitt hat sich die Zahl der Menschen, die die Kirche besuchen, nicht signifikant verändert.
Was macht der Krieg mit Ihrem Glauben?
Das ist eine sehr schwierige Frage. Ich habe meine eigene persönliche Krise erlebt und ich erlebe sie immer noch. Ich fühle, dass mein persönlicher Glaube stärker wird. Früher habe ich sehr stark geglaubt, dass, wenn ich zu Gott bete, er mir antwortet. Es gab verschiedene Situationen, in denen ich verschiedene Erfahrungen gemacht habe. Ich erinnere mich an den Tag als es einen Luftalarm gab. Ich habe angefangen, zu Gott zu beten: Gott, beschütze unser Land. Und nach meinem Gebet habe ich gehört, dass bei diesem Angriff 20 Leute getötet wurden. Meine Frage an Gott war: Warum? Ich habe doch gebetet. Solche Situationen wiederholten sich. Aber es gab auch andere Situationen. Ich betete für andere Menschen, Kollegen, Freunde, Bekannte. Wir kommunizieren über Telegram. Sie baten mich, für sie zu beten. Sie sagten mir, dass sie sähen, wie Gott hilft. Dass Gott auf meine Gebete antwortet. Wir haben widersprüchliche Erfahrungen. Für mich persönlich war das schwierig, weil der Krieg ist ein Umstand, in dem so viele Krisen und Spannungen sich konzentrieren. Während dieses Jahres fast jeden Tag erleben wir so widersprüchliche Erfahrungen gemacht. Heute danken wir Gott, dass er uns gehört hat. Morgen könnten wir enttäuscht und zerstört werden. Aber ich kann nicht sagen, dass ich meinen Glauben verloren habe, nein. Nein. Diese Situation hat meinen Glauben stärker und bewusster gemacht. Soweit ich weiß, denken andere Priester ähnlich. Ich denke nicht, dass es einen Priester gibt, der erlebt hat, dass Gott ihn in jeder Situation erhört oder geholfen hätte. Unsere Glaubenserfahrung ist widersprüchlich, aber stabil.
Auch in meinem vorherigen Leben hatte ich verschiedene Glaubenserfahrungen. Es gab Situationen, in denen mir Gott auf meine Gebete nicht geantwortet hat. So war es. Aber jetzt ist es anders. In diesem einen Jahr konzentrieren sich so viele Krisen. Das ist sehr sehr schwierig. Jetzt spreche ich hier und denke an meine Familie in der Ukraine und weiß nicht, was die nächste Stunde bringt. Die andere Seite des Krieges ist die Unvorhersehbarkeit. Wir wissen nicht, was passiert. Aber dass der Glaube wächst in schrecklichen Situationen. Ich kenne Menschen, die stärker geworden sind während des Krieges aufgrund ihres Glaubens. Und ich kenne einige, die ihren Glauben verloren haben.
Manche glauben an Wunder, manche gehen von ihnen aus. Kann der Ukraine nur ein Wunder helfen?
Wir sind überzeugt, dass Gott nicht immer mit sichtbaren Wundern handelt. Sehr oft wirkt Gott durch Menschen, durch den Kampf. Gott führt uns durch die Kämpfe. Der Glaube an Wunder, unser Bemühen, Glaube und Gebet wirken zusammen. Am Anfang dieses Krieges glaubten wir, dass es Gott nur durch Wunder gibt. Aber nein, nicht immer und nicht in jedem Fall. Es gibt verschiedenen Wege für jeden von uns.
Welchen Wunsch haben Sie für die Zukunft?
Unser großer Wunsch ist der Sieg. Nicht einfach Frieden. Nein. Wir möchten nicht irgendeinen, wir möchten richtigen, echten Frieden. Ich bitte Gott, dass dieser Krieg sehr schnell vorbei ist. Und dass alle unsere Territorien befreit werden. Meine Geburtsstadt ist jetzt unter russischer Okkupation. Was da jetzt passiert, ist schrecklich. Wir brauchen keine anderen Territorien, wir wünschen uns nur, dass unsere eigenen befreit werden.